Es ist 1:54 Uhr, ich komme gerade aus einer überfüllten Piraten-Bar mit
schlechter Musik, habe zu viel Rum-Cola intus und kann nicht schlafen. Ich
stelle fest, dass ich (zu meinem Erschrecken, die Zeit läuft mal wieder viel zu
schnell) nun schon seit etwas mehr als einem Monat hier bin und es mal wieder
Zeit für einen Bericht wird.
Was gibt es spannendes zu erzählen aus dem Land der Crêpes, der Mode und der
Atomkraft?
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Irgendwie alles und nichts.
Ich habe in den letzten Wochen keine wahnsinnigen Ausflüge gemacht, keine
kulinarische Exquisität entdeckt und auch sonst auch (fast) nichts getan, was
ich nicht schon von woanders kenne. Mein Alltag besteht aus erfreulich guten
Vorlesungen an der Science Po, Koch-, Spiel- und/oder Trinkabenden mit
Freunden, stundenlangen Gesprächen mit meinen Mitbewohnern auf dem Flurboden,
gute Bücher lesen und viel Sport.
Diesmal kein Kulturschock, keine sinuskurvenförmigen, extremen
Gefühlsschwankungen, keine Exotik. Es ist also fast erschreckend normal und
alltäglich. Langweilig? Ganz und gar nicht!
Ganz im Gegenteil, ich genieße das Leben hier sehr. Nicht etwa, weil alles
super aufregend und neu und anders ist, nein, sondern weil es sich geradezu
richtig und natürlich anfühlt. Als würde ich hier irgendwie so etwas wie hergehören.
Ich war und bin immer auf der Suche gewesen nach einem Ort, der mir alle
Faktoren bieten kann, die ich brauche, um glücklich zu sein. Und diesmal sind
alle Bedingungen in sehr zufriedenstellendem Maße erfüllt.
Was brauche ich (oder vermutlich jeder von uns)? - Vor allem drei Dinge:
1. ein gutes soziales Umfeld, auf das ich vertraue und in dem ich mich wohl
fühle.
2. Eine Beschäftigung für den Geist, eine anspruchsvolle Arbeit oder ein
Studium in dem ich das Gefühl habe, wirklich gefördert und gefordert zu werden
und etwas Wichtiges daraus mitzunehmen.
3. Eine Tätigkeit für den Körper, ein Sport, der mir Spaß macht und meinen
Ehrgeiz weckt. Ich brauche also Nahrung für Seele, Geist und Körper und ich
habe das Gefühl, das ich genau diese Kombination hier bekommen kann.
Zu Punkt 1: Mein Umgang besteht momentan etwa zu zwei Dritteln aus anderen Austauschstudenten
und zu einem Drittel aus Franzosen (oder Algeriern, Senegalesen,
Elfenbeinküstlern… das heißt französischen Muttersprachlern). Ich bin also sehr
froh, dass ich nette Leute gefunden habe, mich nie alleine fühlen musste und
mich auch mit meinen Mitbewohnern wunderbar verstehe. (Anmerkung: Aus den
Vorlesungen kenne ich leider immer noch fast niemanden) Ich hatte also, was das
betrifft, wohl einfach Glück, zufällig auf die richtigen Leute zu treffen. Dennoch
freue ich mich auch immer mehr auf ein Comeback in Tübingen mit euch!!! :-D
Zu Punkt 2: Trotz 3-Stunden-am-Stück-Frontalunterricht und für mich komplett
neuen Studiengebieten (Politik + Soziologie) fühle ich mich hier gut aufgehoben.
Ich genieße es, mal in eine etwas andere Materie einzutauchen und bin auch froh
einfach nur Texte lesen zu dürfen und den Taschenrechner endlich mal beiseitelassen
zu können. Es schadet auch nicht, dass ich zufälligerweise direkt neben der Uni
wohne.
Zu Punkt 3: Da mir mein Gesicht nach Mexiko langsam etwas zu rund geworden
ist, habe ich mich kurzerhand mit zwei Mitbewohnern im Fitnessstudio angemeldet,
vor allem um auch bei vereistem Wetter ein wenig in Bewegung zu bleiben. Das
ist ein schöner Ausgleich nach der Uni und macht den Kopf frei. Das Schönste aber
ist: Ich wohne mitten in den unfassbar schönen Alpen, das ist also das Paradies
für jegliche Arten von Bergsport. Diese Aussicht hier ist einfach
unbeschreiblich, egal in welche Richtung ich schaue, überall Berge. (Anmerkung:
Das ist gut für meinen extrem schlechten Orientierungssinn. Hier muss ich mir
keine Straßennamen und Himmelsrichtungen merken, sondern orientiere mich
einfach an den unterschiedlichen Bergformationen ;-) Bisher war ich drei Mal
Snowboarden und plane, im Frühling der Wandergruppe der Uni beizutreten. Und
nachdem es mir in Tübingen (zumindest zum WHO) einfach eine Nummer zu hart war
und es in Mexiko fast schon tödlich wäre (und vor allem absolut unüblich), kann
ich hier jede Strecke mit einem Fahrrad bewältigen.
Somit kann ich zusammenfassend sagen: „Einleben“ erfolgreich abgehakt.
Was ist mit meinem Französisch?
Nun, mittlerweile kann man diese Laute, die ich von mir gebe, tatsächlich
schon Französisch nennen. Zum Vergleich: Am Anfang habe ich einfach nur
Spanisch mit französischem Akzent geredet und mich darüber gewundert, dass mich
keiner versteht :-D
Gerade jetzt wird mir gleichzeitig Fluch und Segen von zwei so ähnlichen
Sprachen besonders bewusst, denn noch nie war mein Französisch so schlecht, wie
zur Zeit meiner Ankunft. Ursprünglich war Französisch eindeutig meine stärkere
Sprache, weil ich das schon in der 10. Klasse angefangen hatte. Ich hatte also
alle Grammatikregeln einmal gelernt und einen schon recht beachtlichen
Wortschatz angesammelt, aber auch das Meiste schnell wieder vergessen, da es
eben kaum zur Anwendung kam.
Französisch lernen ist für mich momentan gleichzeitig viel einfacher und
viel schwieriger als Spanisch. Einfacher in dem Sinne, dass ich weiß, dass
alles irgendwo in den Tiefen meines Hirns versteckt liegt und nur wieder
gefunden und geölt werden muss. Den Vorlesungen konnte ich quasi vom ersten Tag
an schon zu 90% folgen, das Wissen über die Sprache ist also noch irgendwo
vorhanden. Besonders wichtig: Wenn ich ein Wort nicht weiß, kann ich es im
Wörterbuch nachschauen und weiß, dass es mit 99%iger Sicherheit auch benutzt
und verstanden wird. (Wohingegen mexikanische Wörter fast nie im Wörterbuch
stehen.)
Schwieriger in dem Sinne, dass mir die Ähnlichkeit zum Spanischen oft zum
Verhängnis wird. Ich verwechsele ständig Wörter oder bilde französische Sätze
mit spanischer Grammatik ohne es zu merken. Die Sprachen sind sich so ähnlich
und gleichzeitig doch so verschieden, dass es mich mittlerweile eher verwirrt,
welche Regeln und welche Vokabel nun zu welcher Sprache gehört.
Auch ist es schwieriger, weil es in Frankreich ungemein wichtig ist, sich besonders
gebildet und auch manchmal möglichst kompliziert auszudrücken. Die
Sprachfertigkeiten sind für die Franzosen quasi ein Abbild der Intelligenz,
eine Messlatte, um den jeweiligen Feingeist zu bewerten. In einer Vorlesung
habe ich sechs verschiedene Wörter nachgeschlagen um festzustellen, dass im
Prinzip doch alles genau das gleiche bedeutet und sich nur um winzige Nuancen
unterscheidet. Das war in Mexiko ganz anders. Dort ging es nicht um
irgendwelche Finessen oder Schöngeistereien. Es ging um die großen Linien,
vielleicht auch etwas mehr um schwarz und weiß. Details spielten keine Rolle.
Das Vokabular kam mir dort also wesentlich reduzierter vor.
Aber ich glaube, ich bin auf gutem Wege. Ich merke, dass ich langsam
Fortschritte mache!
Wenn wir schon bei der Sprache sind, kommen wir zu einem für mich sehr
interessantem Thema:
Die Sprache als Spiegel des kollektiven Geistes. (Achtung, jetzt wird’s etwas
pseudophilosophisch ;-)
Wenn man eine Weile in einer anderen Kultur lebt, entdeckt man neue Sitten
und Bräuche, neue Gesten, neue Handlungsmuster, neue Vorstellungen von Ästhetik,
von Glück… Man kann das spüren, man kann das miterleben, sehen und anfassen.
Aber ich glaube, am nähesten kommt man dem Ganzen durch die Sprache, in der das
menschliche Gedankengut aufbewahrt ist und abstrakte Vorstellungen zu einem
Begriff werden.
Früher dachte ich: Die Sprache ist ein Mittel zum Zweck. Ein bloßes Mittel,
um gewisse Zusammenhänge und Sachverhalte auszudrücken. Erst im Vergleich habe
ich erkannt, dass sich dahinter doch sehr viel mehr versteckt.
Zum Beispiel geht es gerade im Deutschen und Französischen sehr viel um
Feinheiten, Subtilitäten, marginale Unterschiede. Zum Beispiel spielt es eine
Rolle, ob ich im Deutschen genervt, beleidigt, sauer, wütend, aufgebracht,
verbittert, mürrisch, grimmig oder schlecht gelaunt bin. In Mexiko dagegen
würde man (zumindest Carlos Normalmexikaner) das alles in einem Wort „enojado“
zusammenfassen (es existieren auch andere Begriffe, aber darauf wird weit
weniger zurückgegriffen). Ähnlich verhält es sich mit dem Universalwort „tocar“
im Spanischen. Es spielt fast keine Rolle, was ich auf welche Art anfasse. Ob
ich an der Tür klopfe, jemanden streichle, einen Gegenstand anfasse, ein
Instrument spiele oder mit etwas an der Reihe bin, hupe, in einer Lotterie
gewinne oder ein Thema anschneide, das alles kann mit dem selben Wort
beschrieben werden. Umso leichter für das Vokabelmerken, umso schwieriger, um
die richtige Bedeutung im jeweiligen Kontext zu erkennen.
Es ist selbstverständlich, dass das nicht für jeden gilt und auch nicht als
übertrieben verallgemeinert verstanden werden sollte, was ich gleich schreibe:
Ich habe den Eindruck, im Französischen geht es besonders um die Betonung
des Intellekts, der Eloquenz, der rationalen Fähigkeiten. Oft werden einfache
Sachen (übertrieben) verkompliziert, um es ja nicht zu banal aussehen zu
lassen. Professoren reden gerne etwas schwulstig und kommen selten auf den
eigentlichen Punkt. Frägt man jemanden nach seiner Meinung über Ort XYZ, erhält
man oft eine ausführliche, rational begründete Antwort und im Endeffekt ist man
sich manchmal nicht einmal sicher, ob das jetzt positiv oder negativ war.
In Mexiko hingegen spielt das keine bedeutende Rolle. Es geht sehr viel mehr
um die Emotionen, die in einem ausgelöst werden. Gefühle werden sehr stark
betont, vielleicht auch übertrieben und manchmal gibt es auch nur schwarz und
weiß und kaum Graustufen. Es gibt eine riesige Vielfalt an Gefühlsausrufen,
selten fängt man einen Satz an, ohne einen Ausdruck des Entsetzens, der Freude,
des Erstaunens usw. Frägt man einen Mexikaner nach seiner Meinung über Ort XYZ,
so bekommt man als Antwort: „Wunderschön, es gibt kaum einen angenehmeren Ort
auf Erden!“ oder „Um Gottes Willen, ich hasse diesen Ort, geh da bloß niemals
hin!“ Und im Endeffekt weißt du gar nicht, warum es dort so gut/schlecht sein
soll.
Genau nach diesem Muster benutze ich auch die eine oder andere Sprache
lieber. Akademische Texte klingen auf Französisch eindeutig besser. Sobald mich
aber etwas emotional berührt oder aufwühlt, switchen meine Gedanken sofort ins
Spanische um. Ich weine auf Spanisch und träume noch oft auf Spanisch. In der
Sprache fällt es mir auch wesentlich leichter über Gefühle zu sprechen. Im
Deutschen ist mir das dagegen immer noch etwas unangenehm, weil ich die Wörter
dazu einfach nicht mag.
Interessant finde ich auch das Vorhandensein von bestimmten Ausdrücken, die
es nicht in jeder Sprache gibt und die eine kleine Besonderheit darstellen.
Im Deutschen gefallen mir besonders die Begriffe „Schadenfreude“ und „Vorfreude“.
Ich glaube, weder im Französischen, noch im Spanischen, noch im Englischen
gibt es ein passendes Äquivalent dafür. Wozu auch? Vorfreude ist nämlich etwas „typisch“
Deutsches. Um das verspüren zu können, muss man vorher etwas festlegen, und das
tun Mexikaner generell nicht. Auch der Begriff „zu spät“ existiert in Mexiko nicht.
Es gibt nur „spät“. Wo fast keine festen Zeitpläne gelten, kann auch nichts zu
spät sein.
Gerade in Mexiko merkt man auch, dass die Familie und besonders die Mutter eine
unglaublich große Rolle spielen, da es sehr viele Ausdrücke mit „madre“ und „padre“
gibt (desmadre, qué padre!, qué poca madre!, me vale madre, asu madre, puta
madre! Ni madre!...)
Ich stelle gerade fest, dass ich irgendwie vom Thema abdriftet bin und es
schon 4:41Uhr ist.
Ich lasse das jetzt einfach mal so stehen und gehe jetzt schlafen.
<3